Die Umrissradierung
Wie ihre Bezeichnung verrät, besteht eine kolorierte Umrissradierung aus zwei Teilen: einerseits aus der von einer Kupferplatte gedruckten Umrissradierung, andererseits aus der Kolorierung in Wasserfarben, die von Hand mit dem Pinsel aufgetragen wurde. Der Berner Kunstkritiker Franz Sigmund Wagner nannte sie «Gravuren von zarten Umrissen, mit Farben und dem Pinsel vollendet».
Johann Ludwig Aberli, Vue du Village et du Lac de Brientz, nach 1780, kolorierte Umrissradierung.
«So viel wie möglich, nachzuahmen»
Es war Johann Ludwig Aberlis Ziel, mithilfe kolorierter Umrissradierungen aquarellierte Federzeichnungen nachzuahmen. Um diesen Effekt zu erzielen, war es wichtig, dass die Linien der Umrissradierung nicht «kupferstecherisch» wirkten, also gerade verliefen, sondern «leicht» und «mahlerisch». Die Radierung war dafür die geeignete druckgraphische Technik.
Johann Ludwig Aberli, Vue de Nidau pres du Lac de Bienne, um 1780, kolorierte Umrissradierung.
Zur Technik der Radierung
1643 schuf der französische Kupferstecher Abraham Bosse eine Darstellung, die einen Radierer (links) und einen Kupferstecher (rechts) bei der Arbeit zeigt. Hinter ihnen sind Kunstliebhaber zu sehen, die ihre Arbeiten betrachten.
Abraham Bosse, Kupferstecher-Atelier, 1643, Radierung und Kupferstich (© ETH-Bibliothek Zürich, Graphische Sammlung).
«Die Landschaft der wahre Gegenstand der Radiernadel»
Betrachten wir nun zum Nachvollzug der Technik eine Landschaftsradierung. Die Striche, aus denen sich die Landschaft zusammensetzt, verweisen auf jene Stellen der Druckplatte, die vom Künstler durch Ritze im Ätzgrund freigelegt worden waren.
Johann Georg Seiller nach Felix Meyer, Prospect gegen dem Schloss Pfungen im Zürich Gebieth, aus: Underschiedliche rare Prospecten von Gebürg und Wasserfällen in dem Schweizerland, um 1720, Radierung.
Der Druck
Wenn eine Kupferplatte druckfertig war, gab sie der Künstler in die Hände eines Druckers. Ihm oblag die Herstellung der Abzüge. Es war eine anspruchsvolle Aufgabe, für die eine Vielzahl von Kenntnissen erforderlich war.
Abraham Bosse, Kupferdrucker-Atelier, 1642, Radierung (© ETH-Bibliothek Zürich, Graphische Sammlung).
Das Papier - Bütten
Die Kleinmeister arbeiteten mit zwei verschiedenen Papieren: Geripptes Papier (Papier vergé), vorzugsweise aus der Manufaktur Honig & Zoonen im holländischen Zanndyk, und Velin des englischen Papierfabrikanten James Whatman.
Johann Ludwig Aberli, Vue du Village et du Lac de Brientz, nach 1780, vermutlich von Heinrich Rieter kolorierte Umrissradierung.
Das Papier - Velin
In den 1790er Jahren kam das Velinpapier in Mode. Sein Name war vom Kalbspergament abgeleitet, da es ein glattes, «pergamentartiges» Papier war.
Balthasar Anton Dunker nach Sigmund Gottlieb Studer, Chaîne d'Alpes vue depuis les environs de Berne, 1788, von Heinrich Rieter kolorierte Umrissradierung.
Die Kolorierung
Nach dem Druck der Umrissradierung folgte der Auftrag der Kolorierung. Er ging grundsätzlich in zwei Schritten vonstatten. Zunächst wurden mit chinesischer Tusche die Schatten aufgetragen. Sodann folgte der Auftrag der Kolorierung, schritt- und schichtweise, vom Flächigen zum Kleinteiligen.
Johann Ludwig Aberli, Vûe du Chateau de Wimmis et des environs, 1783/84, von Heinrich Rieter kolorierte Umrissradierung.
«Terminés en couleur au lavis»
An einem zweiten Exemplar der Vûe du Chateau de Wimmis et des environs von Johann Ludwig Aberli und Heinrich Rieter lassen sich die Schritte der Kolorierung besonders gut nachvollziehen.
Johann Ludwig Aberli, Vûe du Chateau de Wimmis et des environs, 1783/84, von Heinrich Rieter kolorierte Umrissradierung.
Techniken der Kolorierung
Vergleichen Sie nun die beiden Exemplare der Vûe du Chateau de Wimmis miteinander, um die künstlerische Freiheit in der Kolorierung zu entdecken.
Johann Ludwig Aberli, Vûe du Chateau de Wimmis et des environs, 1783/84, von Heinrich Rieter kolorierte Umrissradierungen.
Die Schattierungen in Tusche
Der Auftrag der Tusche beschränkte sich auf den Bereich der Landschaft. Der Himmel wurde noch leer gelassen. Ein schönes Beispiel für ein solches ausgetuschtes Blatt ist Rapperschweil, au lac de Zurich von Heinrich Füssli dem Jüngsten.
Heinrich Füssli der Jüngste, Rapperschweil, au lac de Zurich, aus: Merkwürdige Gegenden der Schweiz nach der Natur gezeichnet, 1799–1802, kolorierte Umrissradierung.
«Auf die Durchsichtigkeit der Farben … berechnet»
Analog zur Schattierung in Tusche geschah der Auftrag der Kolorierung schichtweise. Aufgrund der Transparenz der Wasserfarben sagte man, die Aquarellmalerei sei «ganz auf die Durchsichtigkeit der Farben und ihre Verwandtschaft unter einander berechnet.» Wie im Bildvergleich zu erkennen ist, lag es in den Händen des Koloristen, wie dieses Zusammenspiel ausfiel.
Gabriel Ludwig Lory, Chutes du Dorf et Alpbach à Meyringuen, aus: Recueil de paysages Suisses dessinés d'après nature, 1797/98, kolorierte Umrissradierungen.
Herkunft und Zubereitung der Farben
Für die Fertigung einer kolorierten Umrissradierung war eine Vielzahl von Materialien notwendig: von der Kupferplatte und Druckerschwärze über die Radiernadel und Pinsel hin zu Papier, Tusche und Farbe. Zu kaufen gab es diese Materialien an für uns unerwarteter Stelle: in den Kunsthandlungen.
Johann Ludwig Aberli, Vûe d'Yverdon, prise depuis Clindi, 1779, kolorierte Umrissradierung.
Die Erfindung von Aberli im Wandel der Zeit
Die Nachfolger von Johann Ludwig Aberli nahmen seine Erfindung auf und passten sie ihren Bedürfnissen an. Zu den wichtigen Veränderungen gehörte der Austausch der Schattierung in Tusche durch die druckgraphische Flächentechnik der Aquatinta. Sie erlaubte ein ökonomischeres Arbeiten, da die Schattierungen nun nicht mehr auf jedem Blatt von Hand aufgetragen werden mussten, sondern bereits im Druckbild miteinhalten waren.
Rudolf Bodmer nach Johann Jakob Meyer, Alter Weg durch die Cardinell, aus: Voyage pittoresque dans le canton des Grisons, 1827, kolorierte Aquatinta.