Chur bezeichnet sich selbst gerne als "die älteste Stadt der Schweiz". Bereits vor 13'000 Jahren hinterliessen Jäger und Sammler auf dem Stadtgebiet ihre Spuren. Grössere Bedeutung erlangte Chur dann aber ab etwa 400 n. Chr. als Bischofssitz. Die Kathedrale mit den umliegenden Gebäuden, der sogenannte "Hof", stand unter der Kontrolle der Bischöfe und wurde erst 1852 Teil der Gemeinde Chur. Wichtigster Industriezweig war schon immer der Transitverkehr: Chur lag an einer wichtigen Handelsroute vom süddeutschen Raum nach Oberitalien, die unter anderen über den Bernardin- und den Splügenpass führte. Auf diesen Routen werden wir uns im Folgenden bewegen.
https://www.chur.ch/geschichte [08.07.2024]; Jürg Simonett; Jürg Rageth; Anne Hochuli-Gysel; Linus Bühler; Martin Bundi; Max Hilfiker: "Chur (Gemeinde)", in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 03.08.2021 [08.07.2024]
Bei der Brücke von Reichenau fliessen der Vorder- und der Hinterrhein zusammen. Das danebenstehende Schloss entstand im 17. Jahrhundert und beherbergte von 1793-98 eine Schule. Einer ihrer Lehrer war ein gewisser Monsieur Chabos, der jedoch eigentlich Louis Philippe d'Orléans hiess und 1830 König von Frankreich werden sollte. So wie es auf dieser Ansicht aussieht, wurde das Schloss dann erst 1820 hergerichtet, als es in den Besitz der Familie von Planta kam.
Linus Bühler, "Reichenau (GR)", in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 23.08.2010 [11.07.2024]
Die südliche Strasse vom Splügen- und San Bernardinopass, auf der wir hier stehen, trifft in Reichenau auf die Strasse, die aus dem Wallis vom Oberalppass herkommt. Diese Strasse führt im Bildhintergrund am Fuss des Kirchhügels von Tamins vorbei.
Hoch über dem Hinterrhein thront das Schloss Rhäzüns, das 1288 erstmals erwähnt wird und damals im Besitz der gleichnamigen Herren von Rhäzüns war. Seither wurde es immer wieder ausgebaut und erweitert. In ihrem Innern befinden sich wertvolle Wandmalereien aus dem 14. Jahrhundert, die die Sage von Tristan und Isolde zeigen. Das Schloss kann jedoch nicht besichtigt werden, denn es befindet sich in Privatbesitz.
Erwin Poeschel, Die Kunstdenkmäler des Kantons Graubünden, Band 3, Räzünser Boden, Domleschg, Heinzenberg, Oberhalbstein und Unterengadin, Basel 1940, S. 72-78; https://www.burgenwelt.org/schweiz/rhaezuens/object.php [11.07.2024]
Das Schloss Ortenstein war Mittelpunkt der gleichnamigen Herrschaft und wurde im 13. Jahrhundert errichtet. Schloss und Herrschaft wechselten mehrmals den Besitzer. Der Herrschaft entspricht heute im Wesentlichen die Gemeinde Domleschg, das Schloss ist in Privatbesitz und wird noch bewohnt.
Jürg Simonett, "Ortenstein", in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 05.12.2016 [11.07.2024]
"Der Blickpunkt der Zeichnung auf dieser Tafel befindet sich am Dorfausgang von Käzis [Cazis], das, obwohl es im Jahr 1819 durch einen über die Ufer getretenen Bach schrecklich verwüstet wurde, einen malerischen Anblick bietet, da es von allen Seiten von schönen Obstbäumen beschattet wird."
J.J. Meyer; J. G. Ebel, Voyage pittoresque dans le Canton des Grisons en Suisse: vers le lac Majeur et le lac de Come: sur les grandes routes novellement construites à travers les Cols de Splugen et de Bernhardin en 32 planches, Zürich 1827, S. 85
"Die Zeichnung zeigt die gesamte bemerkenswerte Lage von Thusis. Vorne sieht man Sils und gegenüber Thusis, die alte und die neue Nolla-Brücke, die alten Wege nach Rongella und Viamala und die neue Straße, die zum verlorenen Loch führt. Das Ganze wird von den Bergen von Joms [Schams] und dem mächtigen Piz Beverin dominiert [...]."
J.J. Meyer; J. G. Ebel, Voyage pittoresque dans le Canton des Grisons en Suisse: vers le lac Majeur et le lac de Come: sur les grandes routes novellement construites à travers les Cols de Splugen et de Bernhardin en 32 planches, Zürich 1827, S. 93-94
Diese Ansicht von Süden zeigt die jüngere Brücke über die Nolla, die 1818-1823 erstellt wurde und zum Ausbau der Kunststrasse über die Bündner Pässe gehörte. Sie ist heute noch erhalten und wird vom Lokalverkehr genutzt. Natürlich wurde sie den Anforderungen des Automobilverkehrs sanft angepasst.
Inventar historischer Verkehrswege der Schweiz, GR 15.10.1 (PDF) [12.07.2024]
Zwischen dem Domleschg und dem Schamsertal zwängt sich die neue Kunststrasse – genauso wie der Hinterrhein – durch eine enge Schlucht. Diese wird, weil sie immer ein grosses Verkehrshindernis war, Viamala genannt. Johann Gottfried Ebel erinnert sich im Begleittext dieser Ansicht: "Der Autor dieses Buches, der im Herbst des Jahres 1819 einen kurzen Ausflug nach Thusis machte, wagte es, seine Schritte in dieser Schlucht über eine Art Brücke zu setzen, die aus Baumstämmen bestand, die von hohen Pfosten gestützt wurden, und die an den zerklüfteten Seiten der Felsen entlangführte. Von dieser zerbrechlichen und gefährlichen Brücke aus betrachtete er die Schrecken der Schlucht. Und obwohl er an die schrecklichen Szenen gewöhnt war, die sich oft in den Hochalpen abspielen, war er nicht eher von dem Schrecken befreit, den dieser schreckliche Abgrund in ihm auslöste, als bis er wieder ins Tal zurückkehren konnte. Jede Beschreibung dieser wilden Natur wäre unvollständig und würde hinter der Wirklichkeit zurückbleiben."
J.J. Meyer; J. G. Ebel, Voyage pittoresque dans le Canton des Grisons en Suisse: vers le lac Majeur et le lac de Come: sur les grandes routes novellement construites à travers les Cols de Splugen et de Bernhardin en 32 planches, Zürich 1827, S. 111
Ab 1821 war dann jedoch die Fahrstrasse durch die Schlucht fertiggestellt. Ein wichtiger Abschnitt war dabei das sogenannte Verlorene Loch, wo die Strasse durch einen Tunnel geführt werden musste. Dieser Tunnel war laut Ebel etwa 65 Meter lang und rund vier Meter hoch und breit. Die Schlucht sei an dieser Stelle bis zur Strasse noch etwa 80-90 Meter tief.
J.J. Meyer; J. G. Ebel, Voyage pittoresque dans le Canton des Grisons en Suisse: vers le lac Majeur et le lac de Come: sur les grandes routes novellement construites à travers les Cols de Splugen et de Bernhardin en 32 planches, Zürich 1827, S. 111-112
Zweimal überquert die Strasse den wilden Viamala-Kessel. Beide Brücken wurden bereits 1738/39 erbaut und später für die Fahrstrasse nur noch leicht angepasst. Nach ihrem Erbauer werden sie auch als "Wildenerbrücken" bezeichnet. Von dieser nördlichen Wildenerbrücke steht heute nur noch das südliche Widerlager.
Inventar historischer Verkehrswege der Schweiz, GR 15.1.3 (PDF) [15.07.2024]
Die südliche Wildenerbrücke ist auch heute noch erhalten. Sie ist 13.5 Meter lang, mit einem Bogenradius von sieben Metern. Die Fahrbahn ist drei Meter breit und wurde beim Ausbau der Strecke 1821 lediglich an den beiden Auffahrten mit zusätzlichen Bögen versehen um das Wenden der Postkutschen zu ermöglichen.
Inventar historischer Verkehrswege der Schweiz, GR 15.1.3 (PDF) [15.07.2024]
Am oberen Ausgang der Viamala führte die Strasse auf dem Punt da Tgiern nochmals über den Hinterrhein. Diese Brücke wurde 1473 erbaut und von der Fahrtstrasse von 1818/23 weiterbenutzt. 1834 sollte sie dann einem Jahrhunderthochwasser zum Opfer fallen, das damals fast alle Brücken im Kanton Graubünden zerstörte. In der Folge verschob man die Brücke rund einen Kilometer weiter flussabwärts in die Nähe des Weilers Rania.
Inventar historischer Verkehrswege der Schweiz, GR 15.10.1 (PDF) [15.07.2024]
"Sobald der Reisende die dritte Brücke der Viamala hinter sich gelassen hat, befindet er sich am Eingang des Schamstals, das ihm um so fröhlicher erscheint, als es plötzlich den mühsamen Eindruck auslöscht, den die düstere Passage, die er über eine Stunde lang zurücklegen musste, natürlich hervorgerufen haben muss. [...] Wie übertrieben der Ausdruck auch erscheinen mag, wir scheuen uns nicht zu sagen, dass die neue Straße durch die Eingeweide der Berge führt und in jeder Hinsicht zu den bemerkenswertesten Sehenswürdigkeiten der Schweiz gehört. Solche gigantischen Szenen in einer so wilden Natur sind nirgendwo sonst in der Alpenkette zu sehen."
J.J. Meyer; J. G. Ebel, Voyage pittoresque dans le Canton des Grisons en Suisse: vers le lac Majeur et le lac de Come: sur les grandes routes novellement construites à travers les Cols de Splugen et de Bernhardin en 32 planches, Zürich 1827, S. 116
Andeer war um 1820 ein Ort mit ungefähr 500 Einwohnern, der vom Verkehr über die Alpenpässe profitierte. Daneben wurde Eisenerz abgebaut und ab 1829 ein Bad betrieben. Im Laufe des 19. Jahrhunderts löste Andeer Zillis als Hauptort des Schams ab.
Jürg Simonett, "Andeer", in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 02.12.2016 [15.07.2024]
"Es lohnt sich, hier einen Moment zu verweilen, um die erhabene Szene des Aversbachs zu betrachten, der aus einer dunklen, felsigen Schlucht kommt und sich hier mit lautem Getöse in die majestätischen Fluten des Rheins stürzt, die auf der anderen Seite gerade dem Roffla-Schlund entsprungen sind. Um diesen Anblick in vollen Zügen zu genießen, muss man zur Mittagszeit auf die kleine Landspitze hinabsteigen, die in das Rheinbett hineinragt. Dort bietet sich ein Anblick, der zwar erschreckend, aber dennoch prächtig ist, vor allem, wenn er von der Sonne beleuchtet wird."
J.J. Meyer; J. G. Ebel, Voyage pittoresque dans le Canton des Grisons en Suisse: vers le lac Majeur et le lac de Come: sur les grandes routes novellement construites à travers les Cols de Splugen et de Bernhardin en 32 planches, Zürich 1827, S. 133
Mit der Rofla folgt die zweite Schluchtenpassage entlang der Fahrstrasse von Chur nach Splügen. Sie ist weniger spektakulär als die Viamala, aber Johann Jakob Meyer fand hier trotzdem einen schönen Wasserfall des Rheins vor, den man als "oberen Rheinfall" bezeichnen könnte. "Eine halbe Meile von Andeer und nicht weit vom Zusammenfluss des Aversbachs mit dem Hinterrhein entfernt, gelangt man in diese Schlucht, die eine halbe Meile lang ist. Weniger schrecklich als die Viamala, bietet sie entlang der schrecklich zerrissenen Gneis- und Porphyrfelsen abwechselnd wilde und erhabene Szenerien und mehrere Fälle des Rheins, die sich durch Gruppen von prächtigen Kiefern und Lärchen auf äußerst malerische Weise präsentieren."
J.J. Meyer; J. G. Ebel, Voyage pittoresque dans le Canton des Grisons en Suisse: vers le lac Majeur et le lac de Come: sur les grandes routes novellement construites à travers les Cols de Splugen et de Bernhardin en 32 planches, Zürich 1827, S. 137-138
Kurz vor dem 200-Seelen-Dorf Sufers führt der Weg nochmals durch eine wilde Felspassage. Die Ansicht, wie sie auf diesem Bild dargestellt ist, bietet sich heute jedoch nicht mehr: 1959-62 wurde der Rhein aufgestaut und die Fahrstrasse aus dem 19. Jahrhundert versank unter den Wassermassen. Die Strasse führte früher auch gar nicht in das Dorf Sufers hinein, sondern verlief auf der gegenüberliegenden Talseite dem Hinterrhein entlang.
Kurt Wanner, "Sufers", in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 20.07.2012 [15.07.2024]; Inventar historischer Verkehrswege der Schweiz, GR 15.10 (PDF) [15.07.2024]
Über das Rheinwaldtal, dessen Hauptort Splügen ist, schreibt Johann Gottfried Ebel: "Ungeheure Gletscher lasten auf diesen Gebirgen. Das Thal ist fürchterlichen Lauinen ausgesetzt. Neun Monate dauert der Winter; zu Ende Juny schiesst das Gras, und Ende August muss alles Heu gesammelt seyn."
Natürlich nahm Splügen als Talort regen Anteil am Warenverkehr über den gleichnamigen Pass: "Man schätzt die Zahl der Lasttiere, die jährlich an diesem Umschlagplatz die Warenbündel zwischen Deutschland, der Schweiz und Italien transportieren, auf 20.000 bis 25.000. Die Speditionskaufleute, denen diese Waren anvertraut werden, sind durch ihren Eifer und ihr Engagement für die Reisenden gleichermassen bekannt."
Johann Gottfried Ebel, Anleitung, auf die nützlichste und genussvollste Art die Schweitz zu bereisen, Bd. 4, Zürich 1810, S. 106; J.J. Meyer; J. G. Ebel, Voyage pittoresque dans le Canton des Grisons en Suisse: vers le lac Majeur et le lac de Come: sur les grandes routes novellement construites à travers les Cols de Splugen et de Bernhardin en 32 planches, Zürich 1827, S. 142
Hinterrhein ist der nördliche Talort des Berhardinpasses. Von grossem Interesse war für die Touristen des 18. und 19. Jahrhunderts jedoch auch das nahe Quellgebiet des Hinterrheins. Dieses erreichte man zu Fuss in drei Stunden. Während Ebel noch das grosse und prächtige Eisgewölbe beschreibt, aus dem der Hinterrhein austritt, ist von Gletschern heute nicht mehr viel zu sehen.
Johann Gottfried Ebel, Anleitung, auf die nützlichste und genussvollste Art die Schweitz zu bereisen, Bd. 4, Zürich 1810, S. 108
Die Bündner scheuten keinen Aufwand, um die Passstrassen möglichst das ganze Jahr über offen zu halten:
"Zwischen dem Dorf Hinterrhein und dem Dorf St. Bernardin, auf einer Länge von drei Lieues [ca. 12 km], sind acht Männer den ganzen Tag damit beschäftigt, den Weg zu pflügen. Bei andauernd heiterem Wetter sind es nur zwei, manchmal aber auch 30 oder 40 Mann und zwei Ochsen. Die mühsamste Arbeit, das sogenannte Schöpfen, das darüber entscheidet, ob der Reisende weiterziehen kann, findet im Frühling statt. Wenn man warten wollte, bis die Wärme den Schnee weggetaut hat, könnte es passieren, dass zwischen Frühling und Sommer drei, vier oder sogar fünf Wochen lang weder Wagen noch Schlitten über den Bernardin-Pass fahren könnten. [...] Im Jahr 1824 lagen Anfang Juni noch 30 Fuß [10 m] Schnee auf der Bernardinstraße. Die Postdirektion ließ vom 26. Mai bis zum 15. Juni etwa 1 Million Kubikfuß [ca. 28'000 m³] Schnee entfernen, so dass die Wagen nach Abschluss der Arbeiten Ende Juni noch an Stellen vorbeikamen, an denen die Schneewände 8 bis 10 Fuß [ca. 3 m] hoch waren. Im Frühjahr 1825 war die Schöpfarbeit bereits Ende April abgeschlossen. [...] Alle, die im Winter und im Frühjahr mit der Schneeräumung beschäftigt sind, stehen unter der Aufsicht eines Inspektors und werden von der Regierung des Kantons bezahlt. Diese Kosten belaufen sich auf die Summe von 4300 Gulden. Weder die Reisenden noch die Fuhrleute zahlen dafür etwas, außer dem gewöhnlichen Wegegeld. Den Posten werden die Männer, die sie benötigen, kostenlos gewährt. Diejenigen, die mit gemieteten Kutschern reisen, bezahlen die Dienste, die ihnen geleistet werden."
J.J. Meyer; J. G. Ebel, Voyage pittoresque dans le Canton des Grisons en Suisse: vers le lac Majeur et le lac de Come: sur les grandes routes novellement construites à travers les Cols de Splugen et de Bernhardin en 32 planches, Zürich 1827, S. 175-176
Das Dorf San Bernardino war nicht nur für seine Lage an der Passstrasse bekannt. Mit Eröffnung der neuen Strasse sollte sich nämlich auch ein Badbetrieb etablieren: "Das Bemerkenswerteste, was es zu bieten hat, ist die Mineralwasserquelle, die hier entspringt. Sie hat eine Temperatur von 7 1/2°, enthält viel Kohlensäure, schwefelsauren Kalk, Kalkkarbonat, Kalkerde und Eisenoxid und liefert jede Minute 2 1/4 Töpfe à 48 Unzen [ca. 3 l]. Seit 1822 wurde hier ein neues Gasthaus gebaut, das für die Wassertrinker bestimmt ist und in dem Bäder eingerichtet werden sollen. 1826 gab es bereits zwei Gasthäuser, in denen sich 50 oder 60 Italiener und einige Bündner befanden, die das Mineralwasser tranken, das die Einheimischen Aqua forte nennen und das äußerst angenehm zu trinken ist. Diese Quelle und diese Bäder, die sicherlich ausgezeichnet sind, sind wahrscheinlich die höchstgelegenen in der Alpenkette."
J.J. Meyer; J. G. Ebel, Voyage pittoresque dans le Canton des Grisons en Suisse: vers le lac Majeur et le lac de Come: sur les grandes routes novellement construites à travers les Cols de Splugen et de Bernhardin en 32 planches, Zürich 1827, S. 181-182
Südlich des Bernardinpasses kommt man ins Misox/Mesocco, das zwar italienischsprachig ist, aber immer noch zum Kanton Graubünden gehört. Hat man das Dorf Crimei durchquert, bietet sich bald ein grossartiger Ausblick: "Dieser Teil des Weges bietet die größte Vielfalt an malerischen Bildern, wenn die Lichtstrahlen und der Schatten günstig sind. Eine halbe Meile unterhalb von Crimei erhebt sich in der Mitte des Tals der Hügel mit den imposanten Ruinen der Burg Misox (Castello oder Castellatsch di Misocco). Welcher Freund der schönen Natur und der Geschichte könnte es sich verkneifen, auf diesen Hügel zu steigen und die Ruinen aus der Nähe zu betrachten? Der Ort, an dem sich dieser Schauplatz vergangener Größe befindet, ist sehr romantisch. Auf der rechten Seite sehen Sie in einer Vertiefung das hochgelegene Dorf Soazza mit seiner malerischen Kirche [...]."
J.J. Meyer; J. G. Ebel, Voyage pittoresque dans le Canton des Grisons en Suisse: vers le lac Majeur et le lac de Come: sur les grandes routes novellement construites à travers les Cols de Splugen et de Bernhardin en 32 planches, Zürich 1827, S. 189-190
"Bellinzona, eine der fünf Städte des Kantons Tessin, ist der südliche Schlüssel zur Schweiz. Seine drei Burgen [...] verteidigen diese wichtige Passage, und eine lange, zinnenbekrönte Mauer [...] schließt das Tal, das sich an diesem Punkt verengt. Dieser Ort verteidigt den Eingang zum Misox-, Blegno- und Leventina-Tal sowie die Zufahrt zu den Pässen Bernardin, Lukmanier und St. Gotthard, die alle 11 bis 12 Lieues entfernt sind, und dem 17 Lieues entfernten Lufenen-[Nufenen-]Pass, der von Oberleventina in den Kanton Wallis führt. [...] Bellinzona hat seit jeher grosse Vorteile aus der Durchfuhr aller Waren gezogen, die nach Italien gehen oder über die Pässe kommen [...]. Vor dem Bau der Strassen wurden jährlich 20.000 Lastpferde durch die Stadt geleitet. Auf dem großen Viehmarkt, der zwei Wochen lang in der Ebene bei Bellinzona abgehalten wird, wird ein beträchtlicher Handel betrieben [...], wo oft 10.000 Kühe, Ochsen und Pferde aus der deutschen Schweiz an Italiener aus der Lombardei verkauft wurden [...]."
J.J. Meyer; J. G. Ebel, Voyage pittoresque dans le Canton des Grisons en Suisse: vers le lac Majeur et le lac de Come: sur les grandes routes novellement construites à travers les Cols de Splugen et de Bernhardin en 32 planches, Zürich 1827, S. 201-202, 220
"Unbeschreiblich schöne Aussichten bey dem Kloster Madonna del Sasso" – Vielleicht stiegen schon immer Menschen für die schöne Aussicht auf den Felssporn in der Gemeinde Orselina oberhalb Locarnos, aber vor allem waren es Pilger, die zu dem Heiligtum wallfahrteten. 1480 war einem Franziskaner an dieser Stelle die Muttergottes erschienen, worauf eine Kapelle erbaut und 1616 zur heutigen Kirche Santa Maria Assunta erweitert wurde. Das zugehörige Kloster wurde 1848 aufgehoben, 1852 unter der Leitung von Kapuzinern aber wieder besiedelt. In der Kirche befinden sich bedeutende Kunstwerke, darunter Gemälde von Bramantino (1456-1530) und Antonio Ciseri (1821-1891).
Johann Gottfried Ebel, Anleitung, auf die nützlichste und genussvollste Art die Schweitz zu bereisen, Bd. 3, Zürich 1810, S. 353; Daniela Pauli Falconi, "Madonna del Sasso", in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 28.08.2008, übersetzt aus dem Italienischen [29.04.2024]
Die Splügenpass-Strasse von 1818-1822 wurde zur Gänze vom Lombardo-Venezischen Königreich finanziert, da sie eine direkte Verbindung in die Deutschschweiz und nach Süddeutschland unter Umgehung des Tessin sicherstellte. "Die Vorteile, die sich für den Handel aus dem Bau dieser Straße ergeben, sind offensichtlich. Früher waren die Waren, die man von Chur nach Chiavenna schickte, sechs oder sieben Tage unterwegs. Jetzt brauchen sie nur zwei oder drei Tage, und der Reisende, der die Post nimmt, kann in zehn oder 12 Stunden von Chur nach Chiavenna gelangen. Waren, die von Mailand aus verschickt werden, kommen regelmäßig in acht Tagen in Zürich an. Seit einigen Monaten hat man zwischen Genua und Frankfurt am Main Eilwagen eingerichtet, die die Warenballen in 14 Tagen von einer Stadt in die andere befördern, während die Waren vor der Einrichtung der neuen Straßen in Graubünden 30 bis 50 Tage unterwegs waren."
J.J. Meyer; J. G. Ebel, Voyage pittoresque dans le Canton des Grisons en Suisse: vers le lac Majeur et le lac de Come: sur les grandes routes novellement construites à travers les Cols de Splugen et de Bernhardin en 32 planches, Zürich 1827, S. 256-257; Inventar historischer Verkehrswege der Schweiz, GR 17 (PDF) [22.07.2024]
Die Cardinello-Schlucht hat ihren Namen, der soviel wie Dreh- und Angelpunkt des Tales bedeutet, vom benachbarten Monte Cardine. Der erste Durchbruch der felsigen Abgründe erfolgte vermutlich 1643. Erst nach 1709 wurde der Pfad endgültig ausgebaut und mit neuen Stützmauern, Lehnen und Galerien versehen. Die Cardinello-Schlucht galt stets als gefährlichster Abschnitt der gesamten Splügenroute und kostete einst manchem Säumer, Söldner oder Pilger das Leben.
Umso mehr Aufsehen erregte deshalb der Übergang der französischen Armée des Grisons unter der Führung von Marschall McDonald im Dezember 1800. Trotz tobender Winterstürme machten sich etwa 15’000 Männer in Splügen auf den Weg. In der Cardinello-Schlucht rissen Lawinen Hunderte von Soldaten in die Tiefe.
"Die beiden Schutzhäuser und die drei Galerien, die man errichten musste, zeigen, dass die Straße in dieser Richtung nicht mehr Sicherheit vor herabstürzenden Lawinen bietet als der alte Weg durch die Cardinello-Schlucht. Die Erfahrungen, die man in den letzten Jahren gemacht hat, beweisen, dass diese Mittel zum Schutz der Straße noch nicht ausreichen. Zurzeit (im Sommer und Herbst 1826) wird eine Verlängerung der dritten Galerie gebaut. Es scheint, dass man glaubt, dass nicht einmal das ausreichen wird, denn man sagt, eine Gesellschaft von Aktionären in Mailand beschäftige sich ernsthaft mit einem Plan, wonach ein Tunnel durch den gesamten Splügener Berg von Isola bis zum Dorf Splügen getrieben werden sollte; die Kosten dafür werden auf 5 Millionen geschätzt. Dieser riesige Tunnel soll mit Wasserstoffgas beleuchtet werden."
Dieser hochfliegende Plan wurde nie umgesetzt. Der Tunnel wäre mindestens 12 Kilometer lang geworden, der erste Scheiteltunnel überhaupt und dies fast 60 Jahre vor dem Gotthard-Bahntunnel!
J.J. Meyer; J. G. Ebel, Voyage pittoresque dans le Canton des Grisons en Suisse: vers le lac Majeur et le lac de Come: sur les grandes routes novellement construites à travers les Cols de Splugen et de Bernhardin en 32 planches, Zürich 1827, S. 281-282
Kurz nach Pianazzo führt die Kutschenstrasse an dem 180 Meter hohen Wasserfall vorbei, der vom Bach Scalcoggia gebildet wird. 1834 musste der Strassenabschnitt zwischen Isola und Campodolcino nach Unwetterschäden neu angelegt werden. Die Strasse führte ab dann nicht mehr durch die Schlucht, sondern oberhalb der Geländekante durch das Dorf Pianazzo.
J.J. Meyer; J. G. Ebel, Voyage pittoresque dans le Canton des Grisons en Suisse: vers le lac Majeur et le lac de Come: sur les grandes routes novellement construites à travers les Cols de Splugen et de Bernhardin en 32 planches, Zürich 1827, S. 289; https://www.in-lombardia.it/it/cascata-di-pianazzo [22.07.2024]; Jürg Simonett, "Splügenpass", in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 10.01.2013 [22.07.2024]
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"Der Menschenschlag, die Sprache, der Boden, die Landschaften, die die Natur bietet, kündigen dem aus dem Norden Kommenden ein anderes Land an, und alles beweist ihm, dass er sich in Italien befindet. Sie wandern durch Feigen-, Maulbeer- und Mandelbäume, Zypressen und Lorbeerbäume; die Gärten sind mit Granatapfel- und Orangenbäumen geschmückt; Kastanienwälder bedecken die unteren Berghänge; überall wächst ein ausgezeichneter Wein, und eine Flora mit den schönsten Pflanzen [...] erfreut das Auge." Chiavenna ist das Zentrum des Valchiavenna, das von 1512 bis 1797 als Untertanengebiet zu Graubünden gehörte. Seit 1815 war die Gegend dann Teil des Lombardo-Venezianischen Königreichs. Die Bedeutung der Stadt kommt – ganz ähnlich wie in Bellinzona – von ihrer Lage am Zusammentreffen verschiedener Passstrassen, hier des Splügen-, Septimer-, Maloja- und Julierpasses.
J.J. Meyer; J. G. Ebel, Voyage pittoresque dans le Canton des Grisons en Suisse: vers le lac Majeur et le lac de Come: sur les grandes routes novellement construites à travers les Cols de Splugen et de Bernhardin en 32 planches, Zürich 1827, S. 295-296; Guido Scaramellini, "Chiavenna", in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 07.05.2015, übersetzt aus dem Italienischen [22.07.2024]
"Riva am Lago di Chiavenna ist der Stapelplatz für alle Waren, die aus Italien über den Comer See kommen oder dorthin gehen. Dieser Ort hat nur ein paar Häuser und der Reisende findet dort kaum eine angemessene Unterkunft, aber er kann sich dort Wagen und Pferde besorgen, um nach Chiavenna zu gelangen."
Der Lago di Chiavenna existiert heute nicht mehr. Durch die Senkung des Seespiegels ist er im Laufe des 19. Jahrhunderts in die Teile Pozzo di Riva und Lago di Mezzola zerfallen. Schon 1826 war er nur durch einen schiffbaren Kanal mit dem Comer See verbunden. Die Distanz per Schiff nach Como betrug 14-15 Stunden.
J.J. Meyer; J. G. Ebel, Voyage pittoresque dans le Canton des Grisons en Suisse: vers le lac Majeur et le lac de Come: sur les grandes routes novellement construites à travers les Cols de Splugen et de Bernhardin en 32 planches, Zürich 1827, S. 314-315
Voyage pittoresque dans le Canton des Grisons en Suisse : vers le lac Majeur et le lac de Come: sur les grandes routes novellement construites à travers les Cols de Splugen et de Bernhardin en 32 planches / par J.J. Meyer ; accompagné d'une introduction et explication de Mr. le Docteur J.G. Ebel ; Avec une carte routière de H. Keller, Zürich: chez J. J. Meyer, peintre, 1827